Was passiert, wenn ein Ausländer in der Türkei eine Straftat begeht? | 2025

Globalisierung und zunehmende internationale Mobilität führen dazu, dass Personen unterschiedlicher Nationalitäten immer häufiger Parteien in Strafverfahren eines Staates werden. Welchen rechtlichen Verfahren unterliegen also Ausländer, wenn sie innerhalb der Grenzen der Republik Türkei eine Straftat begehen? Dieser Artikel untersucht den Prozess gegen einen Ausländer, der in der Türkei eine Straftat begeht, die Grundsätze der Zuständigkeit türkischer Gerichte, die Rechte ausländischer Angeklagter und die Sanktionen, denen sie nach einer Verurteilung ausgesetzt sein können, im Lichte der aktuellen Gesetzgebung und Rechtsprechung ab 2025.

Worauf basiert die Zuständigkeit türkischer Gerichte? (Grundsätze der territorialen Anwendung)

Ob ein Ausländer von türkischen Gerichten abgeurteilt werden kann, bestimmt sich nach den Grundsätzen, die den territorialen Anwendungsbereich des Strafrechts regeln.

1. Grundprinzip: Territorialitätsprinzip (TCK Art. 8)

Das Territorialitätsprinzip besagt, dass ein Staat seine eigenen Strafgesetze auf Straftaten anwendet, die innerhalb seines Hoheitsgebiets begangen wurden, unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Täters oder Opfers. Dies ist eine natürliche Folge der staatlichen Souveränität und die Hauptregel des türkischen Strafgesetzbuchs (TCK). TCK Art. 8/1 stellt diesen Grundsatz klar, indem es heißt: „Auf in der Türkei begangene Straftaten finden türkische Gesetze Anwendung.“

  • Was bedeutet „in der Türkei begangene Straftat“? Das Gesetz legt diesen Begriff weit aus. Eine Straftat gilt als in der Türkei begangen, wenn die Handlung teilweise oder vollständig in der Türkei begangen wird oder wenn der Erfolg in der Türkei eintritt (TCK Art. 8/1). Wird beispielsweise aus dem Ausland über das Internet ein Betrug gegen eine Person in der Türkei begangen, kann der Täter nach türkischem Recht verfolgt werden, da der Erfolg in der Türkei eingetreten ist.

  • Was umfasst der Begriff „Land“? Gemäß TCK Art. 8/2 umfasst der Begriff „Land“ nicht nur das Festland, sondern auch türkische Hoheitsgewässer, den Luftraum, türkische See- und Luftfahrzeuge auf hoher See, türkische Kriegsschiffe und -flugzeuge sowie feste Plattformen auf dem türkischen Festlandsockel. Auch an diesen Orten begangene Straftaten gelten als in der Türkei begangen.

2. Problem der Doppelbestrafung: Absolutheit des Territorialitätsprinzips und Konflikt mit „Ne bis in idem“ (TCK Art. 9)

Das türkische Rechtssystem legt dem Territorialitätsprinzip eine sehr starke Bedeutung bei. TCK Art. 9 besagt: „Wer wegen einer in der Türkei begangenen Straftat im Ausland verurteilt wurde, wird in der Türkei erneut vor Gericht gestellt.“ Das bedeutet, selbst wenn ein Ausländer, der in der Türkei eine Straftat begangen hat, im Ausland wegen derselben Tat verurteilt wurde und seine Strafe verbüßt hat, hindert dies nicht daran, dass er in der Türkei erneut vor Gericht gestellt wird.

Diese Situation steht im Widerspruch zum universellen Rechtsgrundsatz „ne bis in idem“ (Verbot der Doppelbestrafung). Der türkische Gesetzgeber hat, um sicherzustellen, dass in der Türkei begangene Straftaten nicht ungestraft bleiben, die Strafhoheit des Staates über das Recht des Einzelnen auf Nicht-Doppelbestrafung gestellt.

  • Kompensationsmechanismus: Anrechnung der Strafe (TCK Art. 16): Das System bietet eine Lösung, um eine doppelte Strafvollstreckung zu verhindern. Gemäß TCK Art. 16 werden Zeiten, die im Ausland wegen derselben Straftat in Haft, Untersuchungshaft oder Strafhaft verbracht wurden, auf die in der Türkei zu verhängende Strafe angerechnet (abgezogen). Der Kassationshof schreibt diese Anrechnung in seinen Entscheidungen ebenfalls zwingend vor.

3. Andere Zuständigkeitsprinzipien (Ausnahmefälle)

Für Situationen, in denen das Territorialitätsprinzip möglicherweise nicht ausreicht, enthält das TCK auch ausnahmsweise Zuständigkeitsregeln, die auf anderen Prinzipien beruhen:

  • Personalitätsprinzip: Verknüpft die Zuständigkeit mit der Staatsangehörigkeit des Täters (Aktives Personalitätsprinzip – TCK Art. 10, 11) oder des Opfers (Passives Personalitätsprinzip – TCK Art. 12). Türkische Gesetze können unter bestimmten Bedingungen auf im Ausland begangene Straftaten Anwendung finden.

  • Schutzprinzip (Realitätsprinzip) (TCK Art. 13): Erlaubt die Anwendung türkischer Gesetze auf bestimmte im Ausland begangene Straftaten gegen lebenswichtige Interessen des Staates (z. B. Staatssicherheit), unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Täters.

  • Universalitätsprinzip (TCK Art. 13): Erlaubt türkischen Gerichten die Verfolgung bestimmter internationaler Verbrechen (z. B. Völkermord, Folter), unabhängig davon, wo oder von wem sie begangen wurden, wenn sich der Täter in der Türkei aufhält.

Zusammenfassende Tabelle: Zuständigkeitsprinzipien nach dem türkischen Strafgesetzbuch

Tabelle 1: Zuständigkeitsprinzipien und Anwendungsbedingungen

Prinzip Relevanter TCK-Artikel Grundregel/Zweck Wichtige Anwendungsbedingungen Beispiel
Territorialität Art. 8-9 Tatortprinzip. Handlung oder Erfolg tritt in der Türkei ein. Verfolgung eines deutschen Staatsbürgers, der in der Türkei Diebstahl begangen hat.
Aktives Personalitätspr. Art. 10-11 Staatsbürger haftet für Taten im Ausland. Täter ist Türke + In der Türkei + Kein Urteil im Ausland + Tat erfüllt bestimmte Schweregrade. Verfolgung eines türk. Staatsbürgers, der in DE Betrug beging und in die TR zurückkehrte.
Passives Personalitätspr. Art. 12 Schutz türkischer Opfer/jur. Personen. Opfer ist Türke + Täter ist Ausländer und in der Türkei + Antrag des Justizministers. Verfolgung eines Italieners, der in FR einen Türken verletzte und in die TR kam.
Schutz (Realitäts) Art. 13 Schutz vitaler Staatsinteressen. Tat ist in TCK Art. 13 aufgeführt (z. B. Straftaten gegen die Staatssicherheit). Verfolgung eines Ausländers in der TR, der im Ausland türk. Währung fälschte.
Universalität Art. 13 Schutz gemeinsamer Menschheitswerte. Tat ist in TCK Art. 13 aufgeführt (z. B. Folter) + Täter befindet sich in der Türkei. Verfolgung eines Ausländers, der im Ausland Folter beging, bei Festnahme in der TR.

Strafverfahren gegen ausländische Beschuldigte

Wenn die Türkei zuständig ist, beginnt ein Strafverfahren gegen den ausländischen Beschuldigten nach der türkischen Strafprozessordnung (CMK). Während dieses Verfahrens hat der ausländische Beschuldigte die gleichen Grundrechte wie türkische Staatsbürger sowie zusätzliche Garantien.

Ermittlungsphase

Die Ermittlungsphase beginnt, wenn die Staatsanwaltschaft Kenntnis von einem Tatverdacht erlangt, und dauert bis zur Annahme der Anklageschrift durch das Gericht. Hauptzweck ist die Sammlung aller Beweise (be- und entlastend), die Aufklärung des Sachverhalts und die Feststellung, ob ein hinreichender Tatverdacht für die Erhebung einer öffentlichen Klage besteht. Ermittlungsverfahren sind in der Regel geheim.

Während dieses Verfahrens kann der ausländische Verdächtige, ebenso wie türkische Staatsbürger, je nach Beweislage und gesetzlichen Voraussetzungen verschiedenen Sicherungsmaßnahmen unterworfen werden. Zu den im CMK geregelten Maßnahmen gehören:

  • Festnahme (CMK Art. 90 ff.): Vorläufige Freiheitsentziehung ohne richterliche Anordnung bei Ergreifung auf frischer Tat oder Gefahr im Verzug.

  • Polizeigewahrsam (CMK Art. 91): Festhalten der festgenommenen Person auf Anordnung der Staatsanwaltschaft für eine bestimmte Dauer (i.d.R. 24 Stunden, bei Kollektivdelikten verlängerbar) in Polizei- oder Gendarmerieeinheiten zur Sicherung des Ermittlungsverfahrens. Ausländische Verdächtige müssen bei Ingewahrsamnahme über ihr Recht auf konsularischen Kontakt informiert werden.

  • Untersuchungshaft (Tutuklama) (CMK Art. 100 ff.): Die schwerste Sicherungsmaßnahme, anwendbar nur auf richterliche Entscheidung bei dringendem Tatverdacht aufgrund konkreter Beweismittel und Vorliegen eines Haftgrundes (Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr etc.). Ausländersein allein ist kein ausreichender Grund für Fluchtgefahr, aber Faktoren wie das Fehlen eines festen Wohnsitzes in der Türkei können diesen Verdacht erhärten. Gegen Haftbefehle kann Beschwerde eingelegt werden.

  • Meldeauflagen/Strafprozessuale Kontrolle (CMK Art. 109 ff.): Freilassung unter bestimmten Auflagen anstelle von Untersuchungshaft, auch wenn Haftgründe vorliegen. Für Ausländer können dies häufig Ausreiseverbote, Aufenthaltsbeschränkungen oder regelmäßige Meldepflichten sein.

Anklagephase

Kommt die Staatsanwaltschaft zu dem Schluss, dass ein hinreichender Tatverdacht besteht, wird Anklage erhoben und eine öffentliche Klage beim zuständigen Gericht eingereicht. Die Anklagephase (Hauptverfahren) beginnt mit der Annahme der Anklageschrift durch das Gericht. Es finden Verhandlungen statt, der Angeklagte wird vernommen, Zeugen gehört und Beweise diskutiert. Das Gericht fällt dann ein Urteil (Freispruch, Verurteilung etc.).

Grundrechte und Garantien für ausländische Beschuldigte

Die Nichtgewährung dieser Garantien untergräbt die Fairness des Verfahrens und kann zur Aufhebung des Urteils führen.

  • Recht auf ein faires Verfahren: Garantiert durch Artikel 36 der Verfassung und Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Umfasst das Recht auf Verhandlung vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht, innerhalb angemessener Frist und öffentlich. Beinhaltet auch Rechte wie ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Verteidigung, Beweisantragsrecht und „Waffengleichheit“.

  • Recht auf einen Dolmetscher (CMK Art. 202): Wenn der Beschuldigte kein Türkisch spricht, hat er in allen Phasen Anspruch auf die kostenlose Hilfe eines Dolmetschers. Dies umfasst auch die Übersetzung wesentlicher Dokumente wie der Anklageschrift. Die Verletzung dieses Rechts ist ein Aufhebungsgrund. Der Große Senat für Strafsachen des Kassationshofs entschied jedoch, dass die Bestellung eines Dolmetschers nicht zwingend ist, wenn der Angeklagte ausreichend Türkisch spricht, um sich zu verständigen.

  • Recht auf einen Verteidiger (CMK Art. 150): Der ausländische Beschuldigte hat in jeder Phase das Recht auf Rechtsbeistand. Wenn er sich keinen Anwalt leisten kann, wird ihm von der Anwaltskammer kostenlos einer beigeordnet. Bei Straftaten, die mit mehr als fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind, ist die Verteidigung durch einen Anwalt zwingend vorgeschrieben.

  • Recht auf konsularischen Kontakt: Auf Antrag eines festgenommenen oder inhaftierten Ausländers müssen die Behörden das Konsulat seines Staates informieren (Wiener Übereinkommen). Die Behörden müssen den Ausländer unverzüglich über dieses Recht informieren.

Rechtsmittel (Berufung)

Ausländische Beschuldigte haben die gleichen Rechte wie türkische Staatsbürger, Gerichtsentscheidungen anzufechten:

  • Istinaf (Regionales Berufungsgericht): Berufung gegen Urteile erster Instanz. Überprüft Tatsachen und Recht.

  • Temyiz (Kassationshof): Revision gegen bestimmte Entscheidungen des Berufungsgerichts. Überprüft in der Regel nur Rechtsfragen.

    • Ausnahme: Entscheidungen über Auslieferungsersuchen werden direkt beim Kassationshof angefochten.

Urteilsergebnisse und Sanktionen

Die am Ende des Strafverfahrens getroffenen Entscheidungen haben für den ausländischen Angeklagten sowohl direkte strafrechtliche als auch indirekte administrative Sanktionen zur Folge.

Verurteilung und Strafvollstreckung

Wird der Angeklagte schuldig gesprochen, wird er zu einer Freiheits- oder Geldstrafe verurteilt. Die Situation eines zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Ausländers wird nach Verbüßung der Strafe oder bei vorzeitiger Entlassung dem Innenministerium (Generaldirektion für Migrationsmanagement) zur Prüfung von Abschiebungsmaßnahmen gemeldet (TCK Art. 59).

Administrative Folge der Verurteilung: Abschiebung (Deport)

Die Abschiebung ist keine Strafe, sondern eine administrative Sanktion gemäß dem Gesetz Nr. 6458 über Ausländer und internationalen Schutz (LFIP). Die Entscheidung wird von der Generaldirektion für Migrationsmanagement oder den Gouverneursämtern getroffen.

Abschiebungsgründe (LFIP Art. 54)

Eine Abschiebungsanordnung gegen einen Ausländer, der eine Straftat begangen hat, kann in der Regel gestützt werden auf:

  • Personen, deren Abschiebung gemäß TCK Art. 59 als notwendig erachtet wird (Art. 54/1-a).

  • Führer, Mitglieder oder Unterstützer terroristischer oder krimineller Organisationen (Art. 54/1-b).

  • Personen, die eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit darstellen (Art. 54/1-d).

Der Begriff „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ gewährt einen weiten Ermessensspielraum, erfordert aber konkrete Beweise. Das bloße Bestehen eines Ermittlungsverfahrens reicht möglicherweise nicht aus.

Auswirkung der Aussetzung der Urteilsverkündung (HAGB) auf die Abschiebung

HAGB setzt die rechtlichen Folgen einer Verurteilung für 5 Jahre aus. Es ist keine rechtskräftige Verurteilung im strafrechtlichen Sinne. In der Praxis können Verwaltungsbehörden jedoch dennoch eine Abschiebungsanordnung erlassen, basierend auf der Art der dem HAGB zugrunde liegenden Tat, indem sie diese als „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ interpretieren. Eine HAGB-Entscheidung bietet keinen absoluten Schutz vor Abschiebung, was die rechtliche Vorhersehbarkeit für Ausländer reduziert.

Rechtsmittel gegen Abschiebungsanordnungen

Ausländer haben wirksame Rechtsmittel gegen Abschiebungsanordnungen:

  • Personen, die nicht abgeschoben werden dürfen (LFIP Art. 55): Personen, denen im Zielland ernsthaft die Todesstrafe, Folter oder unmenschliche Behandlung droht, dürfen nicht abgeschoben werden (Grundsatz des „Non-Refoulement“).

  • Anfechtungsklage vor dem Verwaltungsgericht: Eine Anfechtungsklage kann innerhalb von 7 Tagen nach Zustellung beim Verwaltungsgericht eingereicht werden. Die Einreichung der Klage hemmt automatisch die Vollziehung der Abschiebung bis zum Abschluss des Verfahrens. Entscheidungen des Verwaltungsgerichts in dieser Sache sind endgültig (keine weitere Berufung).

  • Individualbeschwerde beim Verfassungsgericht: Auch wenn die Entscheidung des Verwaltungsgerichts endgültig ist, kann eine Individualbeschwerde beim Verfassungsgericht (AYM) eingereicht werden. Das AYM prüft Abschiebungsanordnungen insbesondere im Hinblick auf:

    • Verbot der Misshandlung (Verfassung Art. 17): Besteht ein konkretes Risiko im Zielland, kann das AYM eine einstweilige Anordnung erlassen, um die Abschiebung zu stoppen.

    • Recht auf Achtung des Familienlebens (Verfassung Art. 20): AYM und EGMR prüfen, ob ein fairer Ausgleich zwischen dem Schutz der öffentlichen Ordnung und dem Recht des Einzelnen auf Familienleben hergestellt wurde (unter Berücksichtigung der Schwere der Straftat, Aufenthaltsdauer, Familienbande, Kindeswohl usw.).

Fazit und Bewertung

Das Verfahren gegen einen Ausländer, der in der Türkei eine Straftat begeht, ist ein komplexer Prozess an der Schnittstelle von Straf- und Verwaltungsrecht. Das türkische Rechtssystem betont einerseits stark seine strafrechtliche Souveränität auf der Grundlage des Territorialitätsprinzips, gewährt aber andererseits ausländischen Beschuldigten im Strafverfahren wichtige Verfahrensrechte und Garantien im Einklang mit der Verfassung und internationalen Konventionen.

Das Strafverfahren in der Türkei, insbesondere für Ausländer, ist aufgrund von Sprachbarrieren, Verfahrensunterschieden und zusätzlichen Risiken wie der Abschiebung recht komplex. Daher ist es für einen Ausländer, der einer Straftat beschuldigt wird, von großer Bedeutung, von Beginn des Ermittlungsverfahrens an professionelle rechtliche Unterstützung durch einen auf Strafrecht und Ausländerrecht spezialisierten Anwalt in Anspruch zu nehmen, um seine Rechte zu schützen und ein faires Verfahren zu gewährleisten.

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